„Kulturverbot ist ein Offenbarungseid!“ Fachgruppe Veranstaltungswirtschaft der Berlin Music Commission kritisiert „Notbremse“-Gesetz
Berlin, den 21. April 2021 – Die Fachgruppe der Berliner Veranstaltungswirtschaft in der Berlin Music Commission (BMC), ein Zusammenschluss von Veranstaltungsfirmen aller Sparten, hat in ihrer jüngsten Sitzung den Entwurf der vierten Novellierung des Infektionsschutzgesetzes diskutiert, der aktuell in Bundestag und Bundesrat debattiert wird. Sie kam zu dem Schluss, dass dieses Notbremse-Gesetz von Kulturschaffenden und der Veranstaltungswirtschaft nur abgelehnt werden kann.
Die darin enthaltene Bestimmung, dass im Falle der dreitägigen Überschreitung einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 „zusätzliche verhältnismäßige Maßnahmen“ ergriffen werden können, zu denen es gehört, „die Öffnung von Einrichtungen wie Theatern, Opern, Konzerthäusern, Bühnen, Musikclubs, Kinos mit Ausnahme von Autokinos, Museen“ zu verbieten, bedeutet im Klartext ein komplettes Kulturverbot. Diese Bundesnotbremse ist ein Desaster für die Kultur und greift massiv in das Privatleben wie auch das kulturelle Leben der Menschen ein.
Insbesondere kritisiert die Fachgruppe Veranstaltungswirtschaft, dass in dem geplanten Gesetz trotz klarer wissenschaftlicher Aussagen keine Unterscheidung zwischen Veranstaltungen in Innenräumen und in Außenräumen gemacht wird. Damit wird der Veranstaltungswirtschaft, also den Veranstalter:innen, Clubs, Venues, Spielstätten und deren Dienstleister:innen, jegliche Planungsperspektive für den Sommer und somit das letzte Fünkchen Hoffnung genommen. Auch das Projekt Draussenstadt, dass der Kultursenat Berlin plant und fördert und in dem Veranstaltungen im Freien unter Wahrung aller einschlägigen Hygienemaßnahmen bei einem entsprechend günstigen Pandemieverlauf geplant und durchführt werden sollen, hat nun kaum noch reelle Chancen.
Durch das neue Gesetz der Bundesregierung wird das kulturelle Leben nicht nur erneut massiv eingeschränkt – es kommt faktisch völlig zum Erliegen. Und das, obwohl Aerosol-Forscher:innen jüngst in einem offenen Brief darauf hingewiesen haben, dass Covid-19-Infektionen fast ausschließlich in geschlossenen Räumen stattfinden. Verantwortungsvolle Veranstaltungen in Parks und auf Freiflächen sind keine Infektionstreiber. Zumal für derartige Veranstaltungen durchdachte, detaillierte und von staatlichen Stellen genehmigte Hygienekonzepte erarbeitet werden und die Einhaltung von Abstands- und Masken-Regelungen von geprüften Hygiene-Stewards und -Stewardessen kontrolliert werden kann. Die Menschen sehnen sich nach Kultur, sie wollen endlich wieder ein Theaterstück oder ein Konzert besuchen und wieder das Gemeinschaftsgefühl unter einem Groove erleben.
Berlin benötigt Öffnungsmöglichkeiten für den Sommer – auch um ein Grundangebot für eine Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die abgesehen von einer kleinen Unterbrechung seit einem Jahr komplett auf kulturelle Angebote verzichten muss und aller Voraussicht nach auch keinen normalen Sommerurlaub planen kann. Es geht hier nicht zuletzt um die kulturelle Teilhabe von Menschen, darunter viele Familien mit Kindern und junge wie ältere Menschen. Im Mai 2020 sagte die Bundeskanzlerin in ihrem Podcast: „Kulturelle Veranstaltungen sind für unser Leben von allergrößter Wichtigkeit. Das gilt auch für die Zeit der Corona-Pandemie.“ Diese Aussage steht in diametralem Gegensatz zum pauschalen Kulturverbot des neuen Gesetzes.
Die Inzidenz 100 kann und darf nicht der einzige Parameter für die Schließung von Kultur- Sport- und Freizeiteinrichtungen sein. Die Einschränkungen der Grundrechte sind so erheblich, dass sie nur rechtmäßig sind, wenn die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Dies ist durch das Abstellen auf die alleinige Inzidenz nicht gewährleistet. Hier sind sowohl der R-Wert, die Durchimpfung der Bevölkerung als auch die Belastung der Intensivmedizin zu berücksichtigen.
In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, dass auch die Möglichkeit von Modellprojekten weiter bestehen bleibt, wie sie in Berlin Ende März begonnen wurden. Das Notbremsen-Gesetz verunmöglicht weitere Modellprojekte – das Gegenteil wäre sinnvoll: Wir benötigen viele derartige Modellprojekte, vor allem auch an unabhängigen Spielstätten verschiedenster Größenordnungen.
In der Begründung des Gesetzentwurfs wird das Öffnungsverbot von Kultureinrichtungen als „angemessen“ bezeichnet, weil die „Einnahmeeinbußen“ durch „wirtschaftliche Kompensationsprogramme erheblich abgemildert“ würden. Davon kann keine Rede sein.
Im Gegenteil: Jenseits der Tatsache, dass die Hilfen für den Kulturbereich und die Veranstaltungswirtschaft in weiten Teilen unzulänglich konstruiert sind und in aller Regel deutlich verspätet ausgezahlt werden – so wurde zum Beispiel die Novemberhilfe für die meisten Kulturbetriebe faktisch zu einer März- oder Aprilhilfe – trifft das von der Bundesregierung angestrebte Gesetz mit seinem faktischen Kulturverbot auf eine Branche, die um ihr Überleben kämpft: Seit über 13 Monaten steht die freie und unabhängige Kultur- und Veranstaltungswirtschaft de facto still und muss sich von einem Lockdown zum nächsten kämpfen. Da Veranstaltungen eines Vorlaufs von mehreren Monaten bedürfen – teilweise von bis zu einem Jahr bei internationalen Produktionen – ist zu befürchten, dass Konzerte und Veranstaltungen zwei Jahre lang nicht oder nur extrem eingeschränkt stattfinden können, mit den einschlägigen Folgen für die Millionen von Künstler:innen, Kulturarbeiter:innen und Firmen der Veranstaltungswirtschaft.
Die Fachgruppe Veranstaltungswirtschaft in der BMC erwartet, dass die Last der Pandemiefolgen endlich gerecht verteilt wird, statt die Hauptlast wieder einmal denjenigen aufzubürden, die seit über einem Jahr die Maßnahmen zur Eindämmung mittragen und deren wirtschaftliche Existenz zunehmend gefährdet ist.
Die Fachgruppe Veranstaltungswirtschaft in der BMC fordert die Abgeordneten des Deutschen Bundestags auf, dem Entwurf des Infektionsschutzgesetzes in der vorliegenden Fassung die Zustimmung zu verweigern und sich im Gegenteil aktiv dafür einzusetzen, dass nicht erneut ein pauschales Kulturverbot erlassen wird. Der Berliner Senat wird aufgefordert, dem Gesetz im Bundesrat die Zustimmung zu verweigern.
Informationen und Mitglieder der Fachgruppe Veranstaltungswirtschaft.
Photo by Annie Spratt on Unsplash
[Bildbeschreibung: Das Bild zeigt eine leere Konzertbühne auf einer Wiese an einem sonnigen Tag.]